Ohrenschmaus
- von Erik Fosnes Hansen

Wie hören wir Musik? Ja, wie hören wir überhaupt? Vor allem benutzen wir den Gehörsinn, indem wir auf mentaler Wahrnehmungsebene all jene Laute ausschließen, die wir nicht hören wollen. Denn das Ohr ist stets offen, wir können es nicht schließen wie unsere Augen, nur nachts sinkt die Hörempfindlichkeit ein wenig, doch nie ganz. Auch mit geschlossenen Augen und sogar im Schlaf ist der Gehörsinn unsere ständige Verbindung zur umgebenden Wirklichkeit. Er ist unsere letzte Alarmanlage, er schlummert in uns und holt uns aus dem Schlaf, ob nun ein hungriger Säugling weint, der Wecker das erste Piepen loslässt oder (irgendwann früher einmal) hungriges Brummen einen Bären ankündigt, der in die Familienhöhle eindringt. Von der Geburt bis zum Tode sind wir, so lange das Gehör funktioniert, zu allen Seiten von Geräuschen umgeben. Wir baden in einem Meer von Tönen. Wir haben keine andere Wahl.

Daher können Geräusche auch so aufdringlich, geradezu unverschämt wirken, vom unendlichen Renovierungsprojekt des Mitbewohners in der Etage unter uns bis hin zu dem Menschen auf der anderen Straßenseite, der an schönen Sommerabenden immer bei offenem Fenster Musik hört. Nicht die Musik an und für sich muss stören, vielleicht hat der Mensch einen ausgezeichneten Geschmack, aber das Aufdringliche daran stört. Er lässt uns keine andere Wahl. Obwohl, man kann sich ja entscheiden, ob man hinübergeht, klingelt und ihn totschlägt oder das eigene Fenster schließt. Mit solchen Situationen kann man ja leben.

Freilich, meist kommen wir mit dieser lebenslangen Kakophonie gut zurecht, können das meiste ausblenden, es ins Unterbewusste verbannen: Verkehrslärm, Menschenstimmen, Schritte auf dem Bürgersteig, die Computerlüftung, Wind und Regen, Kinderstimmen vom Spielplatz, klirrendes Besteck im Café – all das fügt sich zu einem Hintergrundgeräusch, das trotz allem eine Art mentaler Stille zulässt. Im alltäglichen Strom leiser und lauter Geräusche zu treiben, mag sogar Sicherheit vermitteln. Manche Stadtkinder fürchten sich, wenn sie erstmals im Winter in die Weiten des Gerbirges kommen und - nichts hören. Die Bergstille kann regelrecht erschreckend wirken. „Die große weiße Stille“, wie Nansen sie nannte. Sie ist der Ewigkeit verwandt, dem lautlosen Weltraum, der Abwesenheit von Leben, dem Tod.

Doch auch in den Bergen ist es ja nicht ganz still. Das Gehör muss sich nur umstellen, sich auf ein anderes Niveau einschwingen. Das Sausen über einer scharfen Schneekante. Knirschende Schritte im Schnee. Das Knacken der Hüttenwand. Hundegebell weit, weit entfernt. Zurück in der Stadt, wirkt deren Geräuschkulisse auf einmal wie der reinste Lärm – bis wir uns nach einer Weile erneut an sie gewöhnt haben und sie nicht mehr wahrnehmen.

Manche Laute sprechen direkt zu uns, tragen einen Sinn, sind nicht nur Geräusch unter Geräuschen. Die menschliche Stimme gehört dazu, sie will stets etwas von uns. Sie versetzt unseren Intellekt, unsere Emotionen in Schwingungen, ob sie sich nun ausdrücklich an uns richtet oder wir im Vorbeigehen auf der Straße nur Brocken mitbekommen: „... und dann sag ich zu Gunnar, Gunnar, sag ich, weißt du nicht, was sie die ganze Zeit treibt?“ Ja, was wohl?, denkt man im Weitergehen eine Zeit lang. Sogar wenn wir in einer Sprache angesprochen werden, die wir nicht verstehen, setzt es zwangsläufig unseren inneren Analytiker in Gang: Was will uns der Schaffner sagen? Ist unser Fahrschein ungültig? Sitzen wir im falschen Zug? Sind zu weit gefahren? Hätten gestern reisen sollen? Mag er uns nicht? Was will er?

Manche Laute wollen etwas von uns, ganz direkt. Besonders die Musik. Auch sie ist Trägerin eines Sinnes, eines menschengeschaffenen, aus Harmonien und Melodielinien bestehenden, aus Rhythmus, Tempo und Lautstärke, die zusammen einen Gefühlsinhalt transportieren, Trauer, Freude, Triumph, festliche Stimmung, Melancholie, Hoffnung, Verzweiflung, Spaß, Dramatik: All das teilt uns die Musik in ihrem Gewebe aus Zeit, Klang und Tonhöhe mit. Doch wohnt ihr – je nachdem, wie sie entstanden ist – noch etwas weiteres inne: die Persönlichkeit des Musikers, das besondere Gepräge von Zeit und Ort.

Wohl darum erleben viele von uns so einen großen qualitativen Unterschied zwischen hier und jetzt aufgeführter Musik und solcher aus der Konserve. Diese ist unveränderlich. Sie interagiert nicht mit der jeweiligen Situation, sondern bildet eine starre, stets gleiche Matritze. Auch tendiert sie zu Vollkommenheit, da alle kleinen Fehler und Ungenauigkeiten ausgewetzt sind, wie sie zu Liveaufführungen einfach dazugehören.

Live gespielte Musik hingegen fügt sich in die Situation ein, sowohl rein physikalisch – je nach Akustik und übriger Beschaffenheit des Spielortes – wie auch mental, wenn sie dem Publikum begegnet, das zahlreich oder wenig sein kann, alt oder jung, interessiert oder gleichgültig. Unweigerlich wirkt die Stimmung im Raum auf die Musiker ein, der genius loci, der Geist des Raums, wie schon die alten Römer es nannten. Der hier und jetzt entstehende Ausdruck ist einzigartig, diese Situation kann nicht wiedererschaffen werden. Bei der Begegnung lebendiger Musiker mit dem Publikum in der Aufführungssituation entsteht eine ganz eigene Dynamik.

Im Teaterkaféen in Oslo war es alte Sitte, dass auf einer Balustrade sitzende Musiker zur Unterhaltung der Gäste aufspielten. Wenn heute dort eine CD im Hintergrund läuft, ändert das alles. Obgleich die Lautstärke geringer ist als beim Kaffeehausorchester, sind die Töne gleichwohl aufdringlicher, denn mechanischer. Sie werden anstrengend, gehen einem auf die Nerven. Sie fügen sich nicht ein, sondern drängeln sich vor, wenden sich nicht direkt an uns Einzelne, sondern an eine abstrakte Allgemeinheit. Wärme, Unmittelbarkeit, Präsenz fehlen – es ist ja niemand da.

Hinzu kommt der Unterschied in der Tonqualität von Instrumenten – ich denke vor allem an akustische Instrumente – und Lautsprechern. So lange man nicht über Lautsprecher verfügt, die ein paar Zehntausender kosten, und über eine HiFI-Anlage im Gegenwert einer Luxuslimousine, zu der man im absolut idealen Winkel platziert ist, wird es einen bestenfalls subtilen, aber immer spürbaren Unterschied zwischen Instrument und Box geben. Mich erinnert er immer an den Unterschied zwischen der Wärme eines Kamins und der von einem elektrischen Heizofen. Es mag Einbildung sein, aber Live-Musik – „lebende“ Musik – vermittelt mir immer in hohem Maße etwas Lebendiges. Das Schwingen der Cellosaiten, der Silberatem der Querflöte, die Schärfe, mit der das Doppelrohrblatt den Luftstrom teilt – das sind Verlängerungen des Organismus; der Musiker lebt in der Musik mit seiner Persönlichkeit, ja, auch seiner Körperlichkeit, mittels Bewegungen und Atemzug. Darum wird das Ergebnis auch so menschlich, fast wie Stimmen. Es füllt den Raum ganz, es ist eine Präsenz.

Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, diese Qualitäten mit einer Aufnahme einzufangen. Sofern es sich nicht um einen Konzertmitschnitt handelt, herrschen bei Aufnahmen kontrollierte, oft etwas sterile Bedingungen. Die Musiker haben sich nicht festlich gekleidet, oft ist es früh am Tage, ein Publikum mit seinen Hintergrundgeräuschen, kleinen Hustern, gereckten Hälsen und Atemzügen gibt es keines. Und dem Applaus, nicht zu vergessen. Ersetzt wird es durch einen Mann, der über Lautsprecher danke und bitte sagt. Er sitzt nicht einmal im selben Raum. In regelmäßigen Abständen geht der Dirigent zu ihm hinüber, verlässt sein Ensemble, um den letzten Take anzuhören. Sofern es ein Fenster zur Technik gibt (was nicht immer der Fall ist), kann man ihn reden und gestikulieren sehen. Ein alter Philharmoniker nannte das mal das „Aquarium“ – übrigens ohne zu sagen, auf welcher Seite der Aquariumsscheibe er sich selbst sah.

Musik aufzunehmen, bietet also größere Anforderungen als die rein technischen, also abgesehen von Fragen der mechanischen Wiedergabe, die mit den Jahren ganz zweifellos sehr gut geworden ist. Aber die Aufnahmesituation selbst ist eine andere, als wenn man vor Publikum spielt. Auch die Hörsituation ist eine andere, vom Gruppenerlebnis reduziert zu einer höchst privaten Affäre; nur zwei oder drei Leute lauschen, meist aber: ich, ich allein. Die Musik auf der Aufnahme ist für mich gedacht. Als Hörer habe ich ein ganz anderes Verhältnis zu dieser Konserve; sie stellt höhere Ansprüche an meine eigene Schaffenskraft und meine Präsenz als die Konzertsituation.

Auf eine Weise ähnelt das dem Roman, der Situation von Text und Leser. Auch das Gedruckte ist eine stets gleiche Matritze, zu ihr muss der Leser sich verhalten; das Kunsterlebnis beim Lesen ist ein höchst individueller, hermetischer Zustand, in dem wir selbst den Worten Klang, den Figuren Leben und der Landschaft Licht verleihen müssen. Der Autor muss wohlüberlegt Regie führen beim Einsatz seiner Mittel, damit der Text auf dieser Mikroebene funktioniert und Dimensionen, Tiefe und Persönlichkeit entwickeln kann. Nähe. Damit er eine Stimme bekommt.

CD-Produzenten sehen sich derselben Herausforderung gegenüber. Der Schlüssel zu allen guten Aufnahmen, so meine ich, liegt in der Erkenntnis des tiefgreifenden Unterschieds zur Live-Aufführung und darin, diese Kluft nicht zu leugnen. Es gilt herauszufinden, was nur die Aufnahme leisten kann. Hierzu muss der Produzent ein Mitwirkender beim eigentlichen musikalischen Prozess werden, in einer Linie mit Musikern und Dirigent. Der Produzent muss den Klang, das Klangbild herausarbeiten, das die eher abstrakten Qualitäten der Musik hervorhebt – das uns der innersten Intention des Komponisten näher bringt, der perfekten Verwirklichung der perfekten Partitur. Musik, von ihrer Präsenz in Augenblick und Raum gelöst, mit all ihren großen und kleinen Variationsmöglichkeiten, definiert als etwas Endliches, etwas Wiederholbares.

Die TrondheimSolistene, ein lebendiges, erstklassiges Kammerorchester, suchen mit ihren Aufnahmen, auf die sie viel Zeit und Sorgfalt verwenden, stetig neue Wege der Musikvermittlung. Um das oft statische Klangbild von Aufnahmen klassischer Musik zu überwinden (links die ersten Geigen, dann die zweiten und nach rechts immer so weiter) und keine pure Kopie der Sitzordnung auf dem Podium zu geben, sondern eine andere Annäherung an die Musik zu erlangen, hat Morten Lindberg, der Produzent der vorliegenden Aufnahme, einige interessante Eingriffe vorgenommen, die den Musikern wahre Herausforderungen brachten, indem er die gewohnte Aufführungsweise, ja das Zusammenspiel als solches in Frage stellte. Bei den Aufnahmen von Tschaikowskys Streicherserenade trennte er die Musiker von ihren gewohnten Nachbarn und platzierte sie in der Kirche von Selbu in einem Kreis, alle mit demselben Abstand zum Mikrophon, das sich in der Mitte befand (wie auch der Maler Håkon Gullvåg). Diese Methode stellt hohe Ansprüche an die Musiker, sowohl als Solisten wie auch als Ensemble, und war anfangs gewiss verunsichernd. Doch die TrondheimSolistene, allesamt herausragende Musiker, wussten rasch das künstlerische Potenzial dieser Situation zu nutzen, zumal das größerer künstlerischer Freiheit.

Dem Hörer dieser Aufnahme bringt das ein frappierend neuartiges Erlebnis. Die Melodiestimmen kommen von allen Seiten, losgelöst von einer festen Verteilung im Raum, und die Akustik der mittelalterlichen Steinwände der Kirche von Selbu verwebt sie zu etwas, das einen zu umschweben scheint, in dem man sich selbst schweben fühlt. Vielleicht, so denkt man, hat Tschaikowsky es so gehört, als er es schrieb, befreit vom Steuerbord und Backbord des Konzertpodiums. Man kann dies aber auch als das Angebot einer neuen Aufnahmetechnik sehen, in der die Produktion mehr als bisher ein aktiver Teil der Interpretation wird, ja ein Teil der Musik selbst, und der Aufnahme Qualitäten hinzufügt, die nur eine Aufnahme haben kann. Eine hervorragende Antwort auf das Dilemma, dem sich die Musikkonserve ausgesetzt sieht. Und auch die gleichzeitige Herausgabe einer LP-Edition mit Tschaikowskys Streicherserenade und Carl Nielsens Suite for strygere (Streichersuite) schafft Raum für die speziellen Tiefenqualitäten, die das Vinyl dem Hörer schenkt.

Ein Kuriosum: Es gibt eine frühe, nur eine knappe Minute lange Aufnahme von Tschaikowskys Stimme, hergestellt im Jahre 1890 in Moskau von der Firma Edison. Mehrere befreundete Musiker sind darauf zu hören, sie jubeln und singen und machen spöttische Bemerkungen, wie Teenager mit einem Kassenttenrekorder, am Ende pfeift Tschaikowsky sogar. Die Tonqualität? Sagen wir es so, sie hat sich seitdem beträchtlich entwickelt. Es klingt, als würden sie mit Halskatharr in einen Eimer sprechen. Außerdem singen sie falsch. Offensichtlich nehmen sie das Ganze nicht ernst, sondern machen Kokolores. Diese wenigen krächzenden Sekunden mit konservierten Tönen wirken heute paradoxerweise als Erinnerung an eine Zeit, als es noch keine echten Aufnahmen gab, sondern Musik stets eine reale, aktive Handlung war. Eine Zeit von größerer Stille und andersartigen Geräuschen. Vermutlich herrschte auch noch ein anderes Verhältnis zwischen den Erwartungen an die technische Virtuosität und jenen an die Persönlichkeit des Künstlers, die mehr kompensieren konnte als heute. Die rasante Entwicklung der Aufnahmetechnik seit deren Anfängen hat unzweifelhaft die Ansprüche an technische Perfektion der Musiker gesteigert: Ein Fehler, ein unreiner Ton bleiben in einer Aufnahe auf ewig konserviert.

TrondheimSolistene - SOUVENIREin Ohr schmückt das Cover dieser Aufnahme, die Verbindung der Ohren von Tschaikowsky und Carl Nielsen, basierend auf Jugendbildnissen. Geschaffen hat diese Illustration der Maler Håkon Gullvåg - wahrscheinlich, nachdem er so lange in der Kirche von Selbu gestanden und den TrondheimSolistene gelauscht hatte, dass er sich selbst vorkam wie ein einziges großes Ohr. Dieses Bild illustriert ganz ausgezeichnet die Annäherungsweise dieser Produktion. Øyvind Gimse hat in seinen zehn Jahren als künstlerischer Leiter den Ausdruck der TrondheimSolistene geprägt, seine musikalischen Ideale sind sowohl bei Konzerten als auch in Aufnahmen wie dieser deutlich zu spüren. Gemeinsam mit dem Geiger Geir Inge Lotsberg und dem Produzenten Morten Lindberg haben Gimse und das Orchester mit dieser Aufnahme akustisches Neuland erkundet. Der Ausdruck der Aufnahme ist gewissermaßen entkörperlicht und zu einem reinen Hörerlebnis, Ohrenerlebnis destilliert.

Wie Gullvågs Illustration andeutet, begegnen wir Hörer hier dem reinen Ohrenschmaus. Die TrondheimSolistene tun einen weiteren Schritt, um die Kluft zwischen sich und den Zuhörern zu schließen, nicht nur die zwischen der realen Konzertsituation und der Aufnahme, sondern die Kluft zwischen der Aufnahme und dem lebendigen, stets offenen Menschenohr.

Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel

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